Am Anfang steht der Tod

DOKUMENTAR- / MEDIZINFOTOGRAFIE

Das Studium der Humanmedizin bringt ein umfassendes und komplexes Feld an theoretischem Wissen zu Bau und Funktion des menschlichen Körpers mit sich, das allein durch die Lektüre anatomischer Bücher nicht gänzlich vermittelbar ist. Um jede einzelne Struktur – Muskeln, Nerven, Arterien, Venen, Organe – kennenzulernen und ihre jeweiligen lateinischen Namen, Funktionen und die komplizierten Lagebeziehungen untereinander zu verstehen, ist die hautnahe Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leichnam als Lehrobjekt elementarer Grundbaustein der Lehre an vielen medizinischen Hochschulen in Deutschland und weltweit.
Im Präparierkurs sezieren die angehenden ÄrztInnen in Kleingruppen über zwei Semester hinweg konservierte Körper, um in Kombination mit Vorlesungen und Seminaren die Anatomie zu be-greifen und so am echten Menschen den Grundbaustein für ihre berufliche Zukunft zu legen.
Die Leichname stammen von Körperspendern – Menschen die sich zu Lebzeiten dazu bereiterklärt haben, ihren Körper nach dem Ableben einem anatomischen Institut für Lehre und Forschung zu spenden.
Ich habe mich dem Themenkomplex Körperspende intensiv fotografisch angenähert und über viele Monate hinweg dokumentarisch an der Medizinischen Hochschule Hannover erkundet. In meinem aus diesem Projekt entstandenen Fotobuch bringe ich die Ebenen von wissenschaftlichem Arbeitsalltag an und mit der Leiche, dem Verstorbenen als Lehrobjekt und den Studierenden mit ihren Gedanken und Gefühlen zusammen.

Medizinfotografie und Dokumentarfotografie spannen mittels behutsamer Blicke in die Arbeits- und Gefühlswelten der Beteiligten einen atmosphärisch-fokussierten Bogen über ein vermeintlich unsichtbares wie bedeutsames Feld der medizinischen Lehre.
Mit dem Tod als Tabuthema unserer heutigen Gesellschaft wirft das Fotobuch nicht nur einen Blick auf die emotionale Seite von Körperspende und Präparierkurs, sondern regt nicht zuletzt auch zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Blick auf die menschliche Vergänglichkeit an.

Das Projekt ist hauptsächlich dokumentarfotografisch geprägt und funktioniert in seiner authentisch aufklärenden Form auch als Corporate Arbeit, die verschiedenen Personengruppen (z.B. Studieninteressierte, Angehörige von Körperspendern) visuellen Zugang und emotionale Eindrücke zur Materie vermittelt.

Die Geschichte wurde als eine der vier Finalistenarbeiten des VGH Fotopreises 2022 ausgezeichnet.

GENRE

Dokumentarfotografie / Medizinfotografie / Corporate Fotografie

ELEMENTE

Dokumentarische Medizinfotografie, Still-Life, Porträts

LOCATION

Hannover | Hamburg, Deutschland

Juni 2021, im Leichenkeller des Instituts für funktionelle und angewandte Anatomie der Medizinischen Hochschule Hannover. Ein süßlich-schwerer, intensiver Alkoholgeruch liegt in der Luft. Blass, unwirklich und ganz klein wirkt der leblose nackte Körper der alten Dame auf dem Konservierungstisch. Die dunkelgrauen Haare elegant, der Mund offen. Meine Kamera halte ich griffbereit in der Hand, jeden Moment soll der Gerichtsmediziner kommen, meint Jana, die Präparationsgehilfin.
An diesem Tag geht es endlich los. Das Projekt hatte etwas Überzeugungsarbeit gefordert, natürlich. Keine Selbstverständlichkeit, jemand Fremdes Zugang zum etwas in die Jahre gekommenen Keller mit seinen Leichen und deren Konservierungsabläufen zu gewähren, sowie sämtliche Aspekte der Arbeit dort fotografieren zu lassen.
Energischen Schrittes betritt der Gerichtsmediziner den Raum und macht sich ans Werk. Schnell wird klar, dass der Körper heute doch nicht konserviert werden kann, da es Hinweise auf einen (zwar unwahrscheinlichen, aber möglichen) nicht-natürlichen Tod gibt. Die Todesursache muss zunächst eindeutig geprüft werden.
Planänderung. Die Prosektur, der weiträumige Leichenkeller, umfasst verschiedene Bereiche und Räume, die ich heute zum ersten Mal erkunde. Sarglager, Chemikalienfässer, Kühlraum, feine Instrumente und schweres Werkzeug, Küvetten – Präparatorin Jana drückt auf einen Knopf und drei tropfende Leichen werden ächzend hochgefahren. Ihre Körper sind gelblich verfärbt, trotzdem sieht man ihnen nicht an, dass sie teils bereits Jahre in der Alkohollösung verbringen.
„Meine“ erste Konservierung findet erst Wochen später statt. Dicke Schläuche lassen 11 Liter Lösung in den kürzlich Verstorbenen hineinfließen. An der Haut lässt sich die allmähliche Verfärbung beobachten. Ein Unterschenkel wird entfernt, erstaunlich gewaltfrei.

Zu diesem Projekt gehört sicherlich eine besondere Faszination für das, was hier passiert und was viele von uns im Großen und Ganzen am liebsten komplett ausblenden. Menschen in meinem Umfeld reagieren größtenteils mit Irritation, Verwunderung oder Ekel auf das Thema. Der Tod betrifft uns alle früher oder später, aber sich damit auseinandersetzen oder gar fotografieren?
Die Arbeit im stillen grauen Keller, zwischen Metall, Fliesen und Neonröhrenlicht löst ganz andere Dinge in mir aus – von Anfang an fühlt es sich wie eine Entdeckungsreise an, jedes Mal auf‘s Neue. Im Mini-Universum des Instituts lerne ich eine Welt kennen, die außer den Mitarbeitern kaum jemand zu Gesicht bekommt, die der Öffentlichkeit – auch den Spendern – bewusst vorenthalten wird, und die mir bei jedem Besuch neue Überraschungen präsentiert. Unerkundetes Territorium.

Eine Tür führt mich von den kalten metallenen Küvetten in den andächtigen Trauerraum mit Kunstblumen-bestücktem Holzsarg und elektrischen Kerzen. Die großen Präpariersäle sind mal leer, mal gefüllt mit zahlreichen Präparaten von Körperteilen und Organen, mal mit den weiß bedeckten Leichen. Mal Stille, mal geschäftiges Treiben.

Der Keller und die Säle sind permanent im Wandel, scheinen ihr Eigenleben zu führen, ganz im Rhythmus mit dem Tod und seinem unvorhersehbaren Zeitplan auf der einen, und dem Semesterablauf gemäß Curriculum auf der anderen Seite.
Naheliegend, dass auch ein Medizinstudium Praxiserfahrung mit sich bringen muss, um die komplexe Theorie zur Anatomie unseres Körpers verstehen zu können. Als ich zufällig vom Präparierkurs erfahren hatte, war es dennoch eine überraschende Erkenntnis: Humanmedizin-Studierenden der MHH wird zu Beginn ihres Studiums, noch im ersten Monat, in kleinen Gruppen je eine konservierte Leiche zugeteilt, die sie über Monate hinweg jede Woche von Kopf bis Fuß, Stück für Stück, mit dem Skalpell auseinandernehmen. So können sie jeden Muskel, Nerv, jeden Bestandteil des Körpers den zweidimensionalen Zeichnungen in ihren Präparieratlanten und den unzähligen lateinischen Namen zuordnen und wortwörtlich be-greifen.

Die Körper werden dem Institut zu Lebzeiten für genau diesen Zweck (sowie für Forschung und Fortbildung von Ärzten und Wissenschaftlern) mittels sogenannter Vermächtnisse gespendet, oftmals aus altruistischen Gründen. Das Angebot an Spenden deckt ziemlich genau den laufenden Bedarf der MHH ab.
Die sterblichen Überreste werden am Ende des Kurses separat eingeäschert und die Urnen anonym auf einem eigenen Grabfeld in Celle beigesetzt. Im Anschluss an den Kurs findet zudem jedes Jahr eine Dank- und Gedenkfeier der Studierenden in der Kapelle der MHH statt. Der Präpkurs ist für die Erstis eine prägende und oft emotionale Erfahrung, die den Grundbaustein ihrer beruflichen Zukunft setzt. Für die Portraits habe ich sie gebeten, sich an den ersten Kurstag und den Moment der ersten Konfrontation mit dem Präparat zu versetzen. Annalenas Portrait entstand vor dem Kurs, die anderen wenige Wochen nach dem ersten Termin.
Der Austausch mit ihnen brachte mir wertvolle Einsicht und einen wichtigen Blickwinkel auf den umfassenden Gesamtkomplex Körperspende.
Im Präp-Saal und auch im Keller bewege ich mich frei umher zwischen wissenschaftlichen Arbeitsabläufen und den Präparaten. Ein Vertrauen zu den Mitarbeitern baut sich bald auf, man lässt mich machen, durch die Räume streifen, fotografieren, ohne Aufsicht.

Durch die Linse suche ich Ästhetik im Zusammenspiel von Tod, Lehre und Wissenschaft – in meinem Kopf ziehen im Hintergrund Gedanken ihre Kreise. Der spezielle Geruch des Leichenkellers und seiner Präparate begleitet mich fast jedes Mal mit nach Hause, bleibt oft noch bis in den Abend, wie ein Phantom, eine Erinnerung oder ein Streich meiner Sinne. Mit ihm bleiben auch meine Gedanken präsent, zu Tod und Leben, Tabu und Verdrängung, Sinnhaftigkeit und Unwirklichkeit von uns und allem.

Julia Bellack, Hannover, 2022

Medizinfotografie Hannover

Am Anfang steht der Tod. Fotobuch Dokumentarfotografie & Medizinfotografie Hannover & Hamburg

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